Wie wird eine Saite konstruiert?

Saiten sind state-of-the-art, high-tech Produkte – eine Kombination aus Physik, Mathematik, Material- und Korrosionswissenschaft, Präzisionsmaschinenbau und Werkzeugkunde. Thomastik-Infeld forscht, entwickelt, baut und produziert seit nunmehr einhundert Jahren. Wir wollen Ihnen einen Einblick in unsere Prozesse geben und Ihnen in sehr groben Schritten zeigen, wie eine Saitenentwicklung bei uns aussieht.
 

Die Aufgabe: Eine neue Violin A-Saite
 

Vorgegeben ist der Ton (440 Hz) und die schwingende Saitenlänge (32,5 cm).
 

1. Festlegung der gEwünschten Saitenspannkraft
 

Zunächst wird die gewünschte Saitenspannkraft festgelegt. Thomastik-Infeld hat den Anspruch, die Saitenspannkraft so gering wie möglich, aber so hoch wie nötig festzulegen. Warum? Eine zu geringe Saitenspannkraft würde zu einem nasalen Klang und zu geringer Belastbarkeit der Saite führen. Das bedeutet: geringe Lautstärke, die Saite würde zu schnell ans Griffbrett gedrückt werden und rasseln, der Saitenklang bei höherer Belastung würde einbrechen etc. Eine zu hohe Saitenspannkraft würde zu einer Überlastung des Instruments führen. Das würde den Verlust von Klangfarben und Obertönen verursachen und ein trompetenhafter Klang würde entstehen.

Auch muss der Kern der gewünschten Saitenspannkraft standhalten. Wenn wir eine Saitenspannkraft von 5,50 kg definieren, muss der Kern eine Belastung von mindestens 5,5 kg problemlos unterstützen. Die Saitenspannkraft bestimmt die Masse, die nötig ist, um die Saite auf den Grundton zu stimmen. Thomastik-Infeld legt allerhöchsten Wert auf Sicherheit und Verlässlichkeit. Daher wird ein zusätzlicher Sicherheitsfaktor, ein Puffer, eingerechnet, damit die Saite auch bei höherer Belastung nicht reißt, ganz ähnlich einer Seilbahn, die auch bei stärkerer Beanspruchung als vorgeben niemals abreißen darf.

Die Saitenspannkraft ergibt sich durch die Masse pro Längeneinheit (Masse der Saite in der schwingenden Saitenlänge). Als Beispiel: Um die Saitenspannkraft mit dem fiktiven Wert X zu erreichen, sind 10 Gramm pro Meter erforderlich. Die Gesamtsumme der Massen aller verwendeten Materialien muss also am Ende 10 g/m ergeben. Das muss bei der Wahl der einzelnen Materialien akribisch berücksichtigt werden.

Mittlerweile gibt es drei Vorgaben:

  • Ton
  • Mensur und
  • Saitenspannkraft.

     
2. Es folgt die detaillierte Definition der Eigenschaften, die die Saite erhalten soll, wie: 
 
  • Klangcharakter (Brillanz und Wärme)
  • Klangfarbenvielfalt (reich und komplex oder pur)
  • Klangkegel beim Spiel (breit oder fokussiert)
  • Ehrlichkeit (übertönt die Saite das Instrument oder unterstreicht sie den individuellen Instrumentencharakter)
  • Dynamischer Bereich: Druckbelastung durch den Bogen (maximale Belastbarkeit im Fortissimo, sichere Ansprache im Pianissimo
  • Dynamischer Bereich: Kraft und Projektion für den Zuhörer sowie Lautstärke und Hörbarkeit für den Spieler am Ohr (3 P bis 3 F)
  • Modulationseigenschaft (verzeihend versus modulierbar)
  • Lautstärkenmodulation (leise und laut)
  • Klangliche Einspieldauer (metallischer Klang, Geräusche nach Saitenwechsel)
  • Stimmstabilität
  • Lebensdauer der Umwicklung (Korrosionsbeständigkeit, Abriebbeständigkeit etc.)
  • Ansprache bei Änderung der linken Hand
  • Bogenansprache
  • Haptik links (Fingergefühl linke Hand)
  • Haptik rechts (Bogengefühl)
  • Lösung bei Problemen wie Wolfton, Schwirrton, Pfeifen

 

3. Daraus resultiert nun die Suche nach den richtigen Materialien und deren Kombination, immer mit der MaSSgabe, die entsprechende Gesamtmasse einzuhalten. Los geht es mit der Saitenkonstruktion. 


Zuerst wählen wir das Kernmaterial: Kunststoff (Polyamide wie Nylon oder Perlon, Polyester oder verschiedenste Polyaryletherketone), Chromstahl (unbeschichtet oder beschichtet) oder Kohlenstoffstahl (als Draht oder Seil). Das Kernmaterial trägt die Saitenspannkraft, gibt die klangliche sowie haptische Richtung vor und hat ein bestimmtes Gewicht (Masse pro Länge). Kunststoff hat beispielsweise 1,6-2 g/cm3, Stahl bereits 7,3-7,8 g/cm3.

 


Mit Ausnahme der blanken Saite (z. B.: Violin-E-Saite, Diskantsaiten für Gitarre) bestehen Thomastik-Infeld Saiten aus mehreren Lagen. Entsprechend den gewünschten Klang- und Handlingseigenschaften entscheiden wir uns für einen Oberflächenwerkstoff (= Material der äußersten Lage). Dann wählen wir Art und Anzahl der Zwischenlagen. Nun folgt die Selektion des Unterspinnungsmaterials. Wir entscheiden zwischen Runddraht oder Flachband und legen fest, wie viele Bändchen und Drähte parallel, also gleichzeitig, gewickelt werden. Die Maßgabe bleibt: Masse pro Länge.

 

 

Daraus ergeben sich natürlich Grenzen und Herausforderungen. Je höher die Dichte und der Durchmesser des Kerns, desto weniger kann außen aufgetragen werden, damit die Masse pro Längeneinheit exakt den Vorgaben entspricht. 

Je höher die Saite klingen soll, desto weniger Gesamtmasse darf sie haben. M (Masse) = (Dichte) x V (Volumen). Je höher die Dichte eines Materials desto weniger Volumen ist nötig, um die gleiche Masse zu erreichen. Silber hat mit 10,5 g/cm3 beispielsweise eine sehr hohe Dichte. Aluminium hingegen hat eine Dichte von 2,6 g/cm3. Das bedeutet, dass wesentlich mehr Aluminium (Banddicke größer) als Silber (Banddicke kleiner) für das Erreichen der gleichen Masse aufgetragen werden kann. 
 

UMWICKLUNGSMATERIAL DICHTE  
Aluminium 2,7 g/cm3 Leichtmaterial
Titan 4,5 g/cm3 Leichtmaterial
Chromstahl 7,9 g/cm3 Schwermaterial
Nickel 8,9 g/cm3 Schwermaterial
Silber 10,5 g/cm3 Schwermaterial
Gold 19,3 g/cm3 Schwermaterial
Wolfram 19,3 g/cm3 Schwermaterial


Wir könnten nun eine sehr geringe Menge Silber um die Saite wickeln. Damit hätte sie aber keine mechanische Stabilität, da das Band extrem dünn wäre. Eine gewisse Banddicke ist notwendig, um die mechanische Stabilität der Umwicklung zu gewährleisten. Auch das ist bei der Wahl der Umwicklungsmaterialien zu beachten. 

Nicht nur die Dicke ist zu bedenken, sondern auch der Festigkeitsgrad und die Steifigkeit des eingesetzten Materials. Beispielsweise hat eine umwickelte Violin-E-Saite mit einer Saitenspannkraft von 7,7 kg einen Kohlenstoffstahlkern mit einem Durchmesser von 0,22 mm. Um diese Saitenspannkraft zu erreichen, wird der Kern mit einem Aluminiumbändchen (2,7 g/cm3) mit einer Dicke von ca. 0,04 mm umwickelt. Würden wir diese Saite stattdessen mit einem Chromstahlbändchen (7,9 g/cm3) umwickeln, hätte es eine Dicke von ca. 0,013 mm, also einem Drittel davon. Bei einem Silberbändchen wäre die Dicke sogar nur noch ein Viertel. Chromstahl ist ein sehr stabiler, fester Werkstoff. Daher können chromstahlumwickelte E-Saiten trotz der minimalen Banddicke hergestellt werden. Silber hingegen ist ein weicher Werkstoff und würde bei Beanspruchung sehr schnell Schaden nehmen. Daher können weder mit Silber umwickelte Violin-A- oder E-Saiten noch mit Silber umwickelte Viola-A-Saiten hergestellt werden. 

Thomastik-Infeld arbeitet mit eigens entwickelten und selbst gebauten Hochpräzisionswalzen, die Bänder in einer Genauigkeit von bis zu 0,5 Mikrometer (0,0005 Millimeter) herstellen. Genau wie im Sport machen diese Zahlen den Unterschied aus und heben uns auf Platz eins. Nach 214 gefahrenen Kilometern und rund fünf Stunden Fahrzeit gewann Marcel Kittel bei der Tour de France 2017 mit nur 0,0003 Sekunden Vorsprung (bei einer durchschnittlichen Fahrgeschwindigkeit von 70 km/h entspricht das rund 6 mm). Ein kleiner Fun Fact: Thomastik-Infeld war einer der führenden Entwickler des Bowdenzugs für das Fahrrad.

Zurück zur Saite: Bei sehr hoch klingenden Saiten wie Violin-E-Saiten sowie Violin- und Viola-A-Saiten bestimmt bereits die Masse des Kerns den überwiegenden Teil der Gesamtmasse. Dadurch kann nur noch sehr wenig Umwickelmasse aufgebracht werden. Das ist der Grund, warum es bestimmte Saiten nicht gibt, nämlich:

  • Violin- und Viola-Silber-A-Saiten 
  • Silber umwickelte Violin-E-Saiten
     
Das Ende der Saitenkonstruktion:

Die Produktion einer Saite dauert zwischen 1,5 und 10 Minuten. Die Entwicklung einer neuen Saite kann aber bis zu 2 Jahre andauern. Die ersten Prototyp-Saiten werden getestet, verbessert und so lange weiterentwickelt, bis das anfangs definierte Ergebnis erreicht ist und unseren Qualitätsansprüchen standhält.

 

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